Es war einmal ein junger Mensch, der in einer Stadt lebte, in der das Urteilen zur Lieblingsbeschäftigung aller geworden war. Eines Tages begegnete er einem weisen Wanderer – vielleicht war es ein Mönch, vielleicht ein Taxifahrer –, der ihn fragte: „Warum trägst du diese schwere Last auf deinen Schultern?“ Verwirrt schaute der junge Mensch an sich hinunter. „Welche Last?“ fragte er.
„Die Last all deiner Urteile über andere“, sagte der Weise. „Jedes Urteil ist wie ein Stein in deinem Rucksack. Du sammelst sie, ohne es zu merken, und wunderst dich, warum du dich immer schwerer fühlst.“
„Aber Urteile sind doch notwendig“, entgegnete der junge Mensch. „Frank ist ein Idiot, das muss doch gesagt werden!“
Der Weise lächelte, als hätte er genau diese Antwort erwartet. „Dann mach doch ein Experiment“, schlug er vor. „Wenn du das nächste Mal über jemanden urteilst, füge am Ende die Worte ‚wie auch ich‘ hinzu. So wirst du erkennen, dass jedes Urteil über andere auch eine Erkenntnis über dich selbst ist.“
Der junge Mensch runzelte die Stirn, aber er versprach, es zu versuchen.
Am nächsten Tag sah er Frank wieder und dachte sich: „Frank ist ein Idiot… wie auch ich.“ Sofort spürte er, wie der Stein, den er gerade in seinen Rucksack legen wollte, sich in Luft auflöste. Er versuchte es weiter:
„Anna ist total faul… wie auch ich.“
„Peter redet immer so viel Blödsinn… wie auch ich.“
„Sarah kann einfach nicht zuhören… wie auch ich.“
Mit jeder Ergänzung fühlte sich der junge Mensch leichter, sein Rucksack immer leerer. Er begann zu begreifen, dass das, was er in anderen sah, oft ein Spiegel seiner eigenen inneren Welt war.
Aber eines Tages, als er jemanden sah, den er zutiefst bewunderte, fragte er sich: „Würde das auch bei Bewunderung funktionieren? Kann ich sagen: ‚Lisa ist unglaublich talentiert… wie auch ich‘?“ Und in diesem Moment erkannte er, dass vielleicht auch das Positive, das er in anderen sah, ein Teil von ihm war.
Vielleicht trug er also nicht nur die Steine der Urteile, sondern auch die Federn der Bewunderung – und beide gehörten zu ihm.
Was denkst du? Könnte das auch bei dir funktionieren?