Oder: Warum ich in der Irrenanstalt GmbH gelernt habe, Misstrauen als Führungsreflex zu erkennen – und dann zu lassen.
Ich war gerade zum dritten Mal in dieser Woche in der Irrenanstalt GmbH in Marburg. Ja, sie heißt wirklich so. Und ja, der Name passt öfter, als mir lieb ist. Ich sollte als externer Sparringspartner etwas zur „Führungskultur“ sagen. Ein dehnbarer Begriff. Wie ein alter Wollpulli. Kratzt oft, wärmt aber selten.
Im Konferenzraum saßen acht Führungskräfte und eine ziemlich nervöse Personalleiterin. Der Geschäftsführer, Dr. Julius Kaiser, hatte mich gerufen, weil „die Leute irgendwie nicht so mitziehen“. Ich fragte: „Wissen Sie, warum?“ – Er zuckte mit den Schultern, seufzte tief und sagte den Satz, der mir noch zwei Tage später in den Ohren hallte:
„Man muss halt immer alles nachkontrollieren.“
Da war es. Dieses kleine, unscheinbare Misstrauen, das sich in Führungsetagen gerne als Sorgfalt tarnt. Ich sehe das oft. Und ich sage dann (meist innerlich): „Ach, du auch?“
Denn das, was wir als Kontrolle verkaufen, ist in Wahrheit oft die Angst, enttäuscht zu werden. Von Mitarbeitenden. Vom System. Vom eigenen Anspruch. Und irgendwann merkt man gar nicht mehr, dass man aus Angst handelt – und nicht aus Vertrauen.
Misstrauen hat viele Hüte
In der Runde wollte ich es wissen. Ich bat alle, aufzuschreiben, wie viel Zeit sie pro Woche mit Kontrolle, Nachverfolgung, Berichten, Eskalationen und Rücksprachen verbringen. Der Mittelwert lag bei 12 Stunden. Zwölf. Pro Woche. Und das nur mit dem Versuch, das Gefühl zu vermeiden, dass etwas „aus dem Ruder läuft“.
Ich sagte: „Wenn Sie das alles Ihren Leuten zutrauen würden – was könnten Sie mit diesen 12 Stunden anfangen?“
Stille. Dann ein paar leise Lacher. Und ein Satz, der hängen blieb:
„Ich könnte endlich mal führen.“
Vertrauen ist kein Luxus – es ist Führungskompetenz
Ich verstehe ja, woher dieses Verhalten kommt. Wir leben in einer Welt voller KPI-Wellen, E‑Mail-Fluten und Projektchaos. Wer da nicht aufpasst, hat schnell das Gefühl, den Überblick zu verlieren. Aber Kontrolle ist keine Rettungsboje. Sie ist oft nur ein Pflaster auf der Wunde des eigenen Misstrauens.
Wenn ich als Dr. Klartext in Unternehmen gehe, frage ich immer nach dem Klima. Vertrauen wächst nicht durch Zertifikate oder PowerPoints, sondern durch echtes Interesse, klare Kommunikation und die Fähigkeit, Verantwortung abzugeben – nicht als Notlösung, sondern als Entscheidung.
Was ich der Irrenanstalt GmbH sagte
Am Ende des Tages, beim Spaziergang mit der Personalleiterin (wir gehen immer spazieren – Gespräche laufen da besser), sagte ich:
„Führung heißt nicht, dass du alles weißt. Führung heißt, dass du entscheidest, wo du loslässt.“
Und sie nickte, sah zum alten Verwaltungsgebäude und sagte leise:
„Vielleicht müssten wir mal bei uns selbst anfangen.“
KLARTEXT-MERKSATZ #9:
Misstrauen mag ein Reflex sein.
Aber Vertrauen ist eine Haltung.
Dr. Johannes B. Klartext
Mittelstandsberatung aus Marburg-Biedenkopf.
Mit Herz. Mit Verstand. Mit Klartext.